Projektreferentin Eva Wallensteiner zur aktuellen Situation in Indien
„Ich hatte meine Reise am 4.März abgeblasen, denn irgendwie war es spürbar, dass die Corona-Krise auch schon bald Indien erreichen würde. In Indien gab es damals nur 27 bestätigte Coronafälle, in Österreich 33. Doch für mich war und ist es unvorstellbar, wie die Ausbreitung dieses Virus in Indien bekämpft werden soll.
Mit Anfang April gibt es in Indien 1593 Infizierte. Die Dunkelziffer ist ebenso unvorstellbar wie die Umsetzung von Maßnahmen wie wir sie hier in Europa gerade erfahren. Indien ist das am dichtesten besiedelte Land der Welt. Nach einer Woche Ausgangssperre zeigt sich, dass nicht der Virus die große Bedrohung für die Menschen ist, sondern schlicht die Angst zu verhungern.
Die Ausgangssperre und ihre Folgen
Seit Ausrufung der Ausgangssperre am 22.03. haben sich Millionen Arbeitsmigrant*innen auf den Weg zurück in ihre Dörfer in den ärmsten Unionsstaaten Indiens gemacht. Sie haben Delhi, Mumbai, Bengaluru, Kerala verlassen - denn wo man keine Arbeit findet, gibt es auch kein Essen! Viele Vermieter haben Studierende und Arbeiter*innen einfach vor die Tür gesetzt. Die Regierung hatte bis dato keinen klaren Plan und das rächt sich gerade. Tausende haben sich zu Fuß auf den Weg gemacht, erschöpfte Menschen versuchen hunderte von Kilometer hinter sich zu bringen, einige sterben am Weg nach Hause. Nur die eigene Familie ist in einem Land, wo das soziale Netz die arbeitende Masse im informellen Sektor nicht auffängt, der einzige Ort der Schutz bietet.
Langsam haben sich die unterschiedlichen indischen Unionsstaaten zu Rettungsaktionen entschieden: Uttar Pradesh hat Busse nach Delhi geschickt. Der Andrang der Menschen war jedoch zu groß und was in so einer Situation „social distancing“ bedeutet, kann sich jeder ausmalen. Die Bilder, die in den indischen Zeitungen gezeigt werden, sind erschreckend.
150 Leute dicht gedrängt im Bus und weitere 100 am Busdach – alle mit nur einem Wunsch: wieder nach Hause zu kommen. Dort wo viele gestrandet sind, wie an Bahnhöfen, wurden Essensausgaben eingerichtet. Doch oft kann nur ein Teil der hungernden Menschen versorgt werden.
Viele unserer Partner*innen vor Ort, die in diesen Dörfern arbeiten, haben zurecht große Sorge, dass mit dem Massenexodus auch das Virus in die verarmten Dörfer in Nord- und Nordostindien eingeschleppt wird. Partner*innen berichten, dass die Familienmitglieder aus Angst vor den Behörden die Rückkehrer*innen verstecken. So werden in Großfamilien keine Vorkehrungen getroffen, die Ansteckung zu verhindern. Die Frage wäre ohnedies ob es möglich ist, wenn man die beengte Wohnsituation gerade von landlosen Tagelöhner*innen betrachtet. Sieben Personen in einen Raum sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel! Wasser, um mehrmals täglich die Hände zu waschen, ist auch ein kostbares Gut ,das nicht aus der Wasserleitung kommt, sondern vom Dorfbrunnen heraufgezogen oder heraufgepumpt werden muss.
Eine Herausforderung für unsere Partner*innen
Die Aussichten scheinen sehr düster zu sein, aber unserer Partner*innen brauchen gerade jetzt unsere Solidarität! Denn sie sind es, die dort arbeiten, wo wie so oft die staatlichen Akteure nicht hinkommen: am sehr prekären Rand der indischen Gesellschaft. Frauengruppen haben begonnen Mundmasken zu schneidern, Sozialarbeiter*innen kontaktieren die lokalen Behörden und versorgen die Menschen in den Dörfern mit dem Nötigsten: Lebensmittel, Hygieneartikel, Desinfektionsmittel. Sie ersuchen um Ausgangspässe, damit sie die Dorfbewohner*innen vor den Gefahren warnen können, sie übersetzen die Maßnahmen so dass sie anwendbar werden für Menschen ohne Wasserleitung und Strom. Eine Partnerin hat mir geschrieben, dass sie die Erlaubnis bei der Behörde einholen will, dass geerntet werden darf – mit Sicherheitsabstand, den die Mitarbeiter*innen unserer Partnerorganisation mit den Leuten gelernt haben.
Der indische Weg
Ich hoffe so sehr, dass Indien wieder einmal zeigt, wie Zusammenhalt und Kreativität Lösungen bringen, die dieser Pandemie auch die Stirn bieten können. Der europäische Weg funktioniert dort, wo es starke staatliche Strukturen und ein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem gibt. Der indische Weg muss erst gesucht werden. Doch ich bin guter Hoffnung, da ich seit mehr als 15 Jahren sehe, wie stark und engagiert unsere Projektpartner*innen sich für die marginalisierten Bevölkerungsgruppen einsetzen, die im Falle von Krisen, diejenigen sind, die am meisten betroffen sind. Sie haben keine geschützten vier Wände, kein geregeltes Einkommen oder eine Versicherung. Sie haben nur den Willen etwas zu tun und zu verändern.
Krisen, Hunger und Überlebenskämpfe sind nicht neu in den Dörfern Indiens. Es ist nur neu, dass wir im Anblick einer Pandemie auch hier Verunsicherung und Angst spüren. Unser Teilen hat noch nie so viel Sinn gehabt wie jetzt in dieser Situation, wo wir alle gemeinsam erkennen, dass wir auf einem Planeten leben und dass wir alle verletzlich sind.
Hoffnung
Heute auch eine schöne Nachricht aus Indien: ein 93-jähriger Mann und seine 88-jährige Frau sind vom Coronavirus geheilt. Die Realität widerspricht eben immer wieder unseren Prognosen, daher ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein so essenziell. Jeder einzelne Euro kann in den Ländern des Südens den Unterschied zwischen Leben und Tod, Verzweiflung und Hoffnung ausmachen. Die Hoffnung muss globalisiert werden, das lerne ich täglich in meiner Arbeit als Projektreferentin der Katholischen Frauenbewegung Österreichs. Danke euch allen Frauen in Österreich, die die Idee der Aktion Familienfasttag seit Jahrzehnten weitertragen. Einst wurde aus eigener leidvoller Erfahrung des 2. Weltkriegs gemeinsam gegen den Hunger in der Welt angekämpft und heute können wir wieder aus eigener Betroffenheit unserer Solidarität Ausdruck geben. Das ist für mich die große Botschaft und Stärke der Aktion Familienfasttag.
Darum bitte ich Sie um Ihre Mithilfe! Unterstützen Sie unsere Projektpartner*innen mit einer Spende auf spenden.teilen.at. Auch ich habe bereits beim #onlinesuppenessen mitgemacht!